Kiyaks Deutschstunde: Partei sucht Volk

 
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Kiyaks Deutschstunde
05.10.2017
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Partei sucht Volk
 
Verwirrende Analysen und Stimmwanderungen: Was wollen die Wähler eigentlich? Vor allem wollen sie Politiker, die Visionen und neue Weltordnungen für denkbar halten.
VON MELY KIYAK

Vor der Wahl stellte das Wahlvolk den Parteien diese eine Frage: Wer seid Ihr, wofür steht Ihr? Nach der Wahl sind es nun die Parteien, die sich an das Wahlvolk richten: Wer seid Ihr, wofür steht Ihr?
 
Es ist eine seltsame Situation, in der das Land steckt. Seit der Bundestagswahl hat man das Gefühl, dass es nicht mehr nur die Bürger sind, die mit den Parteien fremdeln, sondern dass die Fremdelei auf Gegenseitigkeit beruht. Alle Nase lang sitzt ein Spitzenpolitiker in einer Diskussionsrunde und räsoniert über das Ergebnis: "Die Wahlen zeigen eindeutig, was den Wähler umtreibt." Dann folgt eine These. Soziale Frage, Innere Sicherheit, Internet. Daraufhin unterbricht ihn einer von der politischen Konkurrenz und erörtert das Gegenteil.
 
Die Parteipolitiker zerbrechen sich den Kopf darüber, was die Wähler eigentlich umtreibt. Wer diese Leute sind, die so merkwürdig gewählt haben, dass sich kein eindeutiges Muster erkennen lässt. Es gibt Wählerwanderungen von den beiden Volksparteien hin zu allen anderen Parteien. Jeder hat an jeden verloren, beziehungsweise hat Stimmen aus verschiedenen politischen Richtungen dazugewonnen. Mal stammen die Wähler einer Partei aus einem armen Bundesland, dann wieder aus einem vermögenden. Mal handelt es sich um Ostzuwachs oder um Westverluste.
 
Eine Partei wie die CDU hat Wähler an das rechtsextreme Lager genauso verloren wie an die Liberalen. Sie kann sich aber auch über Wähler freuen, die man früher den Grünen zugerechnet hätte. So kann man das eigentlich für jede Partei durchdeklinieren.
 
Im Laufe der Analysen fällt auf, dass Begriffe wie "Volkspartei" oder "Wählermilieu" irgendwie nicht mehr passen. So wie der ganze Sprechapparat auf ein Deutschland ausgerichtet ist, das es so nicht mehr gibt. Wenn die SPD den "kleinen Mann" aus der Mottenkiste holt und damit die Krankenschwester oder den Dachdecker meint, muss sich doch die ganze Generation aus der digitalen Unterschicht, die irgendwas mit Internet macht, wie in einem Paralleluniversum fühlen. Der Dachdecker und die Krankenschwester bekommen im Gegensatz zum Adobe-Flash-Prekariat wenigstens irgendwann noch eine Rente und sind krankenversichert. Man muss schon mit der Lupe suchen, um einen freischaffenden Grafiker unter 30 zu finden, der irgendwo versichert ist. Haftpflicht, Riester und Zahnzusatzversicherung sind für eine Frau, die freiberuflich für einen Verlag oder eine Forschungseinrichtung arbeitet, unerreichbarer Luxus. Und wer irgendwo einen Zweijahresvertrag bekommt, geht das allen Ernstes anschließend feiern. Diese Generation ist eine eigene Klasse, die noch eine Stufe unter "den kleinen Leuten" steht.
 
Man kann den Parteien dabei zuschauen, wie sie das Land neu vermessen. Erst die Wahlergebnisse zeigen ihnen ihr Dilemma. Es gibt einen riesigen Niedriglohnsektor, aber es profitieren davon weder die SPD noch die Linke. Jedenfalls nicht in einem solchen Ausmaß, dass es zur Regierungsbeteiligung reichen würde. Es gibt einen Wahnsinns-Dieselskandal und einen Klimawandel grausamsten Ausmaßes. Es profitieren aber nicht die Grünen davon. Es gibt eine ungeheure Sehnsucht nach Heimat und Kontinuität, es profitiert aber nicht die CDU davon. Es gibt eine nicht zu unterschätzende Abneigung gegen Muslime und Geflohene, es profitiert aber nicht die AfD davon, jedenfalls gemessen daran, dass sie für sich stets in Anspruch nahm, für die "schweigende Mehrheit" zu sprechen. 13 Prozent sind bei aller Liebe nicht die Mehrheit. Kurz: Keine einzige Partei vermag aus einem spezifischen Sachverhalt abzulesen, welches das wichtigste Thema für sie sein sollte.
 
Gerechtigkeit ist kein deutsches Thema
 
Man kann erbittert über Flüchtlinge, Identität und Nationalismus streiten, und trotzdem muss das nicht unbedingt das eine Thema sein. Schaut man sich die einzelnen europäischen Länder und auch Nordamerika an, so kann man feststellen, dass alle Probleme, vor denen die Länder stehen, immer irgendetwas mit unserer Wirtschaftsform zu tun haben. Die Art, wie die Industriestaaten wirtschaften, hat eine Konsequenz nach innen und eine nach außen. Niedriglohnbeschäftigung im Inland und Migration von außen haben einen Zusammenhang, den man nachzeichnen kann. Man landet am Ende immer beim Kapitalismus, von dem man weiß, dass er zum Gedeihen immer die Ungleichheit benötigt. Der wirtschaftliche Wohlstand auf der einen Seite bedeutet – zumindest nach den derzeitigen Regeln – stets Ungerechtigkeit auf der anderen Seite. Jetzt, da wie Welt vernetzt ist, ist es deutlicher sichtbar denn je. 
 
Der Kongo ist eines der ärmsten Länder dieser Erde, obwohl jeder Mensch weltweit mindestens ein Mobilfunktelefon besitzt: Wie kann ein Land den vorletzten Platz im Entwicklungsranking belegen, wenn es doch über den wertvollen Rohstoff Coltan aus Tantalerz verfügt, ohne den es keine Smartphones, Spielkonsolen, Flachbildschirme und Digitalkameras gäbe? Die westliche Welt hat Freizeitspaß, mit dem sie ihre triste Arbeitslosigkeit oder ihre Sorgen überdeckt, und der Kongo hat Kinderarbeit, Ausbeutung und Bürgerkrieg. Ist es nicht merkwürdig, mit welcher Selbstverständlichkeit der Konsum von Waren als gegeben aufgefasst wird?
 
Zwar gibt es noch keine Partei, wohl aber viele einzelne Bewegungen, die den Kapitalismus und seine Produktionsbedingungen als Ursache für das politische, wirtschaftliche und ökologische Ungleichgewicht verantwortlich machen. Man kann die soziale Frage nicht gewinnbringend diskutieren, ohne das Abgehängtsein des kongolesischen Flüchtlingskindes mit dem mecklenburg-vorpommerschen Wutbürger in Zusammenhang zu bringen, der nur mithilfe des Smartphones von der nächsten Wutdemo erfahren hat. Nun irren die Parteien durch das Dickicht der Wahlanalysen und versuchen herauszufinden, wo genau der Fehler liegt. 
 
Klar, kurzfristig kann man mit Rechtsruckkram und völkischen Retrofantasien ein paar Wähler aufsammeln. Langfristig aber werden sich die Menschen dafür interessieren, warum die Welt geworden ist, wie sie geworden ist. Woher die befristeten Arbeitsverträge kommen, das unseriöse Riestersystem. Man wird sich fragen, warum es bei Saturn und Media Markt überteuerten Elektroschrott gibt, wer daran verdient und wer davon stirbt. Die SPD hat zu keinem Zeitpunkt das gemeint, wenn sie von Gerechtigkeit sprach.
 
Wenn man Politik als eine Abfolge von Bewegung und Gegenbewegung versteht, dann wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich eine neue Partei gründet mit Bürgern, die wütend sind. Anders wütend als die heutigen Wutbürger. Den alten Wutbürgern geht es immer nur um Einzelinteressen von geringer Wichtigkeit: Entweder gegen Stuttgart 21 oder für den Flughafen Tegel; entweder für oder gegen das Flüchtlingsheim im Kiez, für mehr Fahrradwege oder weniger Ehegattensplitting. Die neuen Wutbürger aber werden den Feind nicht bei den Opfern des Systems, den Ärmsten der Armen, den Geflohenen ausmachen. Denn Armut, Migration und Flucht sind nie Ursache, sondern Wirkung des politischen Handelns. Es gibt Menschen, die die Zusammenhänge von Gerechtigkeit, Armut und Profit sehen. Die möglicherweise nicht einmal Lösungen erwarten, sondern zufrieden wären, wenn man über Politik und Wirtschaft, über innen und außen, Grenzen und Globalisierung, über Wohlstand in Zeiten von Armut, über Gier als Ursache von Reichtum eine alternative Betrachtungsweise entwickeln würde.
 
Ändert sich daran nichts, wird der Schockzustand der Parteien anhalten: Nicht mehr sie sind es, die Visionen und neue Weltordnungen für denkbar halten, sondern ihre Wähler.


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