Fünf vor 8:00: Lieber nicht an Lenin denken - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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FÜNF VOR 8:00
20.10.2017
 
 
 
   
 
Lieber nicht an Lenin denken
 
Wo jeder Protest als Vorstufe zum Staatsstreich gefürchtet ist, lässt sich schlecht der Revolution vor 100 Jahren gedenken. Dabei haben Lenin und Putin dieselben Fans.
VON MICHAEL THUMANN
 
   
 
 
   
 
   
Dieser Tag wird eine Qual für die russische Regierung, so viel steht schon fest. Am 25. Oktober vor 100 Jahren stürzte Wladimir Lenin Russland in Revolution und Krieg. Der Mann hat eine Utopie verwirklicht und die sozialistischen Bewegungen in vielen Ländern befeuert. Die russische Revolution hat Europa geteilt und später die ganze Welt. Sie wurde in der Sowjetunion stets groß gefeiert, selbst im postsowjetischen Russland wurde dem Oktoberumsturz alljährlich gedacht. Heute ist ihm nicht einmal mehr ein Feiertag gewidmet.
 
Das liegt vor allem an Wladimir Putin. Der Umgang mit der Oktoberrevolution hat sich unter ihm grundsätzlich geändert. Vor eineinhalb Jahren beschuldigte der russische Präsident den Chefrevolutionär Lenin, eine Atombombe unter das Gebäude Russlands gelegt zu haben. Einige dachten damals, damit würde Putin nun eine Bombe vor die Tür von Lenins Mausoleum legen und den chemisch konservierten Bolschewisten bald vom Roten Platz schaffen. Aber passiert ist nichts. Lenins Hülle glänzt weiter leicht speckig im Marmormausoleum. Jetzt werden einige Ausstellungen und eine Lichtshow in St. Petersburg an den historischen Umsturz vor 100 Jahren erinnern. Doch all das kommt verdruckst daher, unentschlossen und nicht durchdacht. Warum gedenkt die russische Regierung einem Tag, den sie eigentlich am liebsten ganz vergessen will? 
 
Das Problem von Putins Regierung ist nicht einfach nur Geschichte und ein bisschen Denkmalpflege. Die Einschätzung Lenins gehört zum Kern des russischen Selbstverständnisses heute. Die Haltung zur Oktoberrevolution, der Gründungskatastrophe des blutigen 20. Jahrhunderts, bestimmt die Selbsteinschätzung der Gegenwart. So jedenfalls sieht es die Regierung. Wer Lenin huldigt, kann Putin nicht preisen. Wer auf Revolutionen steht, kann die Regimestabilität von heute nicht schätzen. Wer den Aufstand nicht verdammt, könnte womöglich gegen die Regierung protestieren. 

Konstantin Kostin, ein Spindoktor des Kremls und Chef der kremlnahen Stiftung für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, bezeichnet etwa die Maidan-Aufstände in Kiew 2014 als Fortsetzung der latenten Drohung gegen "anerkannt rechtmäßige Regierungen". Diese Form des Staatsstreiches, sagt er, habe es in der Geschichte immer wieder gegeben. 1917 sei der Zar gestürzt worden, 1993 habe man in Moskau den Putsch geprobt, 2004 sei die Regierung in Kiew abgesetzt worden. Kostin spricht von "orangen Technologien", an dessen Ende Kriminelle nackte Gewalt anwendeten. "Die Bolschewiki unter Lenin waren wie die Führer des Maidan. Sie haben unrechtmäßig und gewaltsam die Macht ergriffen."
 
Aus der Sicht Kostins sind alle Formen des öffentlichen Protests eine Vorstufe zum Staatsstreich. Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts seien staatszersetzend. Doch fragt man Kostin, ob nicht Russland als Folge von Krisen und wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung auch irgendwann wieder einmal Aufstände drohen könnten, antwortet er selbstsicher: "Diese Zeiten haben wir längst hinter uns gelassen." Geschichte schreitet in Etappen voran. Die Etappe Revolution, die war gestern.
 
Neben Politikern und Spindoktoren im Dunstkreis des Kremls schließen sich auch Armee, orthodoxe Kirche und die Bürokratie dieser Sicht an. In Ausstellungen, Verlautbarungen und Lehrbüchern der vergangenen Jahre wurde die Revolution von 1917 genauso negativ beurteilt wie jene von 1905. Aufstände und Umstürze, so die Lesart, seien grundsätzlich von außen organisiert und allein darauf gerichtet, den russischen Staat zu zerstören. Innerer Zwist, politischer Streit, Proteste würden zur rasdroblennost – zur Zersplitterung – führen. Angesichts dieser massiven Verurteilung der Revolution von 1917 durch Politiker, Spindoktoren und die Kirche müsste das Gedenken entweder ausfallen oder im Donner der Verdammnis untergehen. Stattdessen nun aber doch Ausstellungen, Plakate und diese supersofte Light-Show auf der Fassade des Winterpalastes in Petersburg. Warum?
 
Es liegt an den Russen. Die sind nämlich tief gespalten im Rückblick auf ihre Geschichte. Die Fans und Nostalgiker der Oktoberrevolution sind zahlenmäßig ebenso stark wie die Kritiker des Umsturzes. Nach Erhebungen des Lewada-Zentrums steigt Lenins Popularität in Russland sogar. Während 2006 nur 40 Prozent der Russen Lenin als positive Figur sahen, wuchs dieser Prozentsatz 2016 auf 53 Prozent. Sehr negativ sehen ihn nur noch 5 Prozent, das ist der niedrigste Wert seit dem Untergang seiner Schöpfung, der Sowjetunion.
 
Aller offiziellen Kritik, allen Ausstellungen und allem Stalin-Kult zum Trotz: Lenin bleibt für eine Mehrheit der Russen ein Held. Am positivsten sehen Russen mit über 55 Jahren den Revolutionär, vor allem Rentner, Menschen mit geringer Bildung, niedrigem sozialen Status und geringem Einkommen. Das sind genau jede Schichten der Bevölkerung, bei denen auch Putin stets die höchste Popularität genießt. Lenin und Putin haben also, bei allen ideologischen Gegensätzen, dieselbe Fangruppe. Putin aber will sich im nächsten Jahr wiederwählen lassen - und kann da Zoff über Revolutionen nicht gebrauchen.
 
Deshalb hat er sich für einen sehr vorsichtigen Umgang mit Lenin und dem Aufstand entschieden. Eher stilles Gedenken, ansonsten lieber Verdrängung als krachende Verdammnis. Wladimir Putin hat für diesen Umgang mit dem Revolutionsurahn ein Vorbild, das ist der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew. Die Historikerin Juliane Fürst hat jüngst die Revolutionsfeiern 1977 untersucht. Das war jene Zeit, die von älteren Russen als die goldene Zeit der Sowjetunion erinnert wird. Das Leben war geordnet und überschaubar, die Gastronom-Läden voller Wurst- und Käsesorten. In der sowjetischen Konsumgesellschaft war Lenin nicht mehr gefragt. Zum Jahrestag der Revolution 1977 erwähnte die Prawda die Gedenkfeiern noch nicht einmal, sagt Juliane Fürst. Die Erinnerung an Lenin wurde verdrängt, stattdessen rückte die Glorifizierung des Sieges über Hitlerdeutschland ins Zentrum sowjetischen Gedenkens. In den Breschnew-Jahren der Stagnation konnte man auf eine dramatische Vergangenheit zurückblicken, die man selektiv verherrlichte. Ansonsten richtete man sich in der überraschungslosen Gegenwart ein. Eine Zukunft war nicht vorgesehen.
 
In Putins Russland sieht es ähnlich aus. Das konservativ-autoritäre Regime will das Land und seine Bürger vor unangenehmen Überraschungen und Farbrevolutionen schützen. So soll es bleiben. Wer braucht da noch eine Zukunft? Revolution ist ein heikles Thema, spaltend, aufreizend, berauschend. Für Putin und seine Wiederwahl 2018 wird es am besten sein, wenn das Gedenkjahr möglichst still, schnell und unfallfrei vorübergeht.
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.